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Automobilindustrie im tiefgreifendsten Strukturwandel ihrer Geschichte

Will die Automobilindustrie in Deutschland erfolgreich bleiben, muss sie sich umstellen. Wie, das haben Wissenschaftler des Öko-Instituts mit Forschungspartnern analysiert, kommentiert und nun veröffentlicht.

Die Automobilindustrie wird durch mehrere zeitgleich verlaufende Entwicklungen in einen tiefgreifenden Strukturwandel gezwungen. Trotz der Belastung durch die globale Corona-Pandemie gilt es, die Chancen dieses Kontinuitätsbruchs für Klima und Gesellschaft zu nutzen. Forscherinnen und Forscher des Öko-Instituts und des Fraunhofer-Institut für System- und Innovationsforschung ISI haben in einer gemeinsamen Fallstudie die Situation der Branche analysiert. Sie kommentieren die Entwicklung mit Experten des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung IAB und der TU Braunschweig hier im Blog.

Die Automobilindustrie in Deutschland befindet sich im tiefgreifendsten Strukturwandel ihrer Geschichte. Da der Wirtschaftszweig bedeutend ist für Wohlstand und Beschäftigung am Industriestandort Deutschland, ist eine gelingende Transformation wichtig.

Der Strukturwandel wird durch die derzeitige Corona-Krise nicht unterbrochen, vielmehr verschärfen die Auswirkungen den Handlungsdruck: Die aktuelle Situation kann wie ein Brennglas für den gesamten Prozess gesehen werden. Einbrüche in den Absatzzahlen und die daraus resultierende finanzielle Belastung bringen gerade kleine Unternehmen an ihre Grenzen. Während einer Krise große Investitionen in Zukunftstechnologien und Qualifizierung anzustoßen, wird zur noch größeren Herausforderung.

Globale Megatrends treiben den Strukturwandel

Drei globale Megatrends treiben den tiefgreifenden Strukturwandel der Automobilindustrie:

  1. Der Druck zur Dekarbonisierung des Verkehrs führt zu einem weltweiten Antriebswechsel hin zur Elektromobilität.

  2. Die Digitalisierung hat weitreichende Wirkungen auf Produktionsprozesse und verändert gleichzeitig Angebote und Nachfrage von Fahrzeugen und Mobilitätsdiensten.

  3. Zudem verschiebt sich die Bedeutung von regionalen Automobilmärkten und die politische Rahmensetzung in ausländischen Absatzmärkten gewinnt an Relevanz.

Die deutsche Automobilindustrie ist mit einer Exportquote von über 75 Prozent und einer Fahrzeugproduktion im Ausland von über zwei Dritteln – insbesondere in anderen europäischen Staaten, in China sowie in Nordamerika – stark von globalen Entwicklungen abhängig.

Der Strukturwandel und der damit einhergehende Handlungsbedarf der deutschen Industrie hängen daher nicht nur vom deutschen Markt ab. „Der Blick nach Asien und in die USA zeigt, dass die internationalen Märkte zum aktuellen Zeitpunkt in Teilbereichen wesentlich dynamischer sind als der deutsche Markt“, sagt der Fallstudienleiter und Leiter des Geschäftsfelds Mobilität am Fraunhofer ISI, Dr. Claus Doll. „In der globalisierten Mobilitätsindustrie können innovative Unternehmen auch ohne langjährige automobile Tradition, vielleicht sogar gerade durch die Pfadunabhängigkeit vom Verbrennungsmotor, schnell einen deutlichen Vorsprung erreichen. Dieser ist selbst auf dem heimischen Markt kaum mehr durch ansässige Unternehmen mit ihren manifestierten Innovations-, Produktions- und Vertriebsstrukturen aufholbar.“

 

Aus der Fallstudie leiten sich drei zentrale Handlungsempfehlungen für einen erfolgreichen Strukturwandel ab:

 

1. Progressive und umweltfreundliche Strategien, um sich international zu behaupten

Die deutsche Automobilindustrie steht im Spannungsfeld zwischen dem etablierten „Geschäftsmodell Verbrennungsmotor“ und dem notwendigen Wandel hin zu neuen Antrieben und Mobilitätsangeboten. „Die deutsche Automobilindustrie hat zwar bisher eine sehr starke, internationale Wettbewerbsposition, aber in keinem der vier zentralen Innovationsfelder Digitalisierung, Elektrifizierung, autonomes Fahren, Mobilitätsdienstleistungen sind die deutschen Hersteller weltweit führend“, sagt Prof. Gerhard Prätorius von der TU Braunschweig. Dennoch zeichne sich die deutschen Hersteller durch eine große Kompetenz bei Produktionsprozessen und bei der Integration von Einzelkomponenten zu einem komplexen Produkt aus. Diese Systemkompetenz müsse die deutsche Industrie bei der Begleitung des Strukturwandels als universelle Stärke unbedingt bewahren.

[caption id="attachment_3576" align="aligncenter" width="660"]Deutsche Automobilwirtschaft - große Exportabhängigkeit und hohe Bedeutung der Zulieferer Deutsche Automobilwirtschaft - große Exportabhängigkeit und hohe Bedeutung der Zulieferer[/caption]

Die Zulieferer sind mit einem Wertschöpfungsanteil von mehr als zwei Dritteln an der deutschen Produktion von großer Bedeutung. Teilweise nehmen sie bereits heute eine Vorreiterrolle ein mit ihrer Spezialisierung in Zukunftstechnologien und in der Erschließung neuer Märkte. Besonders in der IT-Kompetenz und in den IT-Dienstleistungen hat die Branche aber starke Defizite gegenüber internationalen Wettbewerbern.

„Progressive Unternehmensstrategien und zukunftsträchtige Zielbilder müssen bei den Herstellern aufgebaut und gelebt werden, um sich in den vielversprechenden Technologiefeldern aussichtsreich zu positionieren und um deren Zuliefernetzwerke mitzunehmen. Nur so kann gesichert werden, dass monostrukturell geprägte Regionen und Zulieferer, deren Kompetenz bisher ausschließlich in Verbindung mit dem verbrennungsmotorischen Antriebsstrang steht, den Wandel bewältigen können", sagt Florian Hacker, Mit-Autor der Studie und stellvertretender Leiter des Bereichs Ressourcen und Mobilität am Öko-Institut.

 

2. Politik muss klare Leitplanken für die Transformation setzen und Planungssicherheit geben

Den Strukturwandel gestaltet maßgeblich die Politik – dies zeigen nicht zuletzt die Veränderungen in wichtigen internationalen Automobilmärkten, wie beispielsweise in China und in Kalifornien. Auch in anderen Branchen sind Wandlungsprozesse hin zu ökologischer Nachhaltigkeit meist erst durch politische und regulatorische Eingriffe angestoßen worden. „Der Vergleich mit historischen Strukturwandelprozessen zeigt, dass strukturtransformative Krisenbewältigungskonzepte erfolgreich waren. Hierfür ist eine eindeutige politische Kommunikation relevant, die den betroffenen Akteuren Planungssicherheit gibt“, sagt Dr. Florian Lehmer vom Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung IAB.

Einzelunternehmen stehen im Spannungsfeld zwischen traditionellem Wirtschaften und neuen Technologiefeldern. Die Industriegeschichte liefert zahlreiche Beispiele gescheiterter Versuche von zuvor erfolgreichen Unternehmen, wenn diese wichtige Trends verschlafen haben, beispielsweise Nokia oder Kodak. Umso wichtiger ist es, dass die Politik beispielsweise Standards für Produktion und Produkte setzt, um Transformationswiderstände zu überwinden. „Neben der politischen Governance forciert aktuell zusätzlich die Umorientierung von institutionellen Investoren wie Investment- und Kapitalgesellschaften die Transformation. Gezielte Investitionen in innovative Unternehmen regen Transformation an. Ein Verharren in traditionellen Geschäftsfeldern wird mit deutlich höheren Risiken bewertet und nicht mehr honoriert“, sagt Prof. Gerhard Prätorius.

Die Fahrzeughersteller haben in den letzten Jahren bereits durch massive Investitionen den Wandel hin zur Elektromobilität eingeläutet. Eine Rückkehr zum Verbrennungsmotor ist weder ökonomisch noch ökologisch sinnvoll und sollte durch kurzfristige Hilfsmaßnahmen seitens der Politik nicht unterstützt werden. Möglichkeiten zur langfristigen Unterstützung der Transformation und gleichzeitig zur Schaffung fairer Marktzugangsbedingungen für alle Unternehmen sind unter anderem: Produkt- und Produktionsstandards, verbindliche Quoten für emissionsfreie Fahrzeuge oder eine konsequente CO2-Bepreisung.

 

3. Restrukturierungspolitik nur mit einer qualifizierenden Beschäftigungspolitik und mit aktiver Innovationsförderung

Die Beschäftigung in der deutschen Automobilindustrie zeichnet sich aktuell durch ein überdurchschnittliches Qualifikations- und Lohnniveau sowie eine starke regionale Konzentration aus. Um auch in den zukünftigen Geschäftsfeldern international wettbewerbsfähig zu sein, ist die Qualifikation der Beschäftigten in zukünftigen Schlüsseltechnologien wichtig. In einer neuen Mobilitätsindustrie, die über die Fahrzeugproduktion hinausgeht, werden entstehende Arbeitsplätze auch zunehmend im Dienstleistungssegment angesiedelt sein. Die Politik hat die Aufgabe, die Qualität dieser neuen Beschäftigungstypen in einem positiven Zielbild nachhaltiger Mobilität in der gesellschaftlichen Wahrnehmung zu stärken und aktiv zu kommunizieren: „Es fallen zwar Arbeitsplätze weg, aber neue entstehen.“

Gleichzeitig muss eine erfolgreiche Restrukturierungspolitik auch die branchenübergreifende Bewegung von Beschäftigten einbeziehen, um Beschäftigungsrückgänge abzufedern und relevantes Know-how zielgerichtet einzusetzen. „Aktuelle Tätigkeitsmuster müssen detaillierter identifiziert werden, um passende Jobs in anderen Branchen für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer zu finden, deren Arbeitsplätze aufgrund des Strukturwandels wegfallen,“ sagt Dr. Florian Lehmer.

Qualifikation und Weiterbildung werden zu Recht immer wieder als Schlüsselkomponenten eines gelingenden Strukturwandels angemahnt, Inhalte und Ausgestaltung bleiben jedoch oft unkonkret. Die vordringliche Aufgabe von Forschung und Politik liegt in der ehrlichen Reflexion und Diskussion von Kenntnislücken und die Entwicklung von maßgeschneiderten Lösungen bei der Weiterbildung in Schlüsseltechnologien.

Wichtig ist zudem, dass Unternehmen und Politik, insbesondere die Fördermittelgeber, den Innovationsprozess kritisch und ehrlich betrachten. Jeder Strukturwandel bringt übergangsweise Ansätze hervor, die sich langfristig nicht durchsetzen. Trotz allem sind freie Experimentierräume ein wichtiger Nährboden für Überlegungen, die über den Tellerrand hinausgehen und in innovative und zukunftsfähige Lösungen münden. Die Orientierung der Innovationsförderung an den kürzer werdenden Innovationszyklen und eine offenere Förderung mit geringerem administrativem Aufwand können die Unternehmen in der aktiven Annahme der Herausforderungen durch den Strukturwandel unterstützen.

 

Die Fallstudie

Die Fallstudie Automobilwirtschaft im Forschungsvorhaben „Strategien für den ökologischen Strukturwandel in Richtung einer Green Economy“ hat im Auftrag des Umweltbundesamtes die Ausgangssituation der heimischen Automobilindustrie sowie Treiber und zukünftige Entwicklungen analysiert (Working Paper zur Fallstudie). In verschiedenen Beteiligungsformaten haben die Autorinnen und Autoren unter Mitwirkung von Stakeholdern sowie Expertinnen und Experten Handlungsempfehlungen entwickelt. Die Ergebnisse wurden im Webinar „Nachhaltige Automobilwirtschaft – Strategien für eine erfolgreiche Transformation“ während einer Online-Konferenz zum Gesamtprojekt im Mai 2020 von den Autorinnen und Autoren vorgestellt und von Dr. Florian Lehmer vom IAB und Prof. Gerhard Prätorius von der TU Braunschweig kommentiert (Vortragsfolien siehe unten).

Die Vortragenden diskutierten anschließend mit den etwa 30 Teilnehmerinnen und Teilnehmern aus Industrie, Wissenschaft und Interessensvertretungen die Fallstudienergebnisse. Wie schon die Tiefeninterviews und der Fachworkshop während der Studie gezeigt haben, ist der aktive Austausch mit Akteuren aus den verschiedenen Wirtschafts- und Forschungsbereichen neben den wissenschaftlichen Analysen ein wichtiges Element, um anwendungsorientierte Handlungsempfehlungen zu geben und die verschiedenen Perspektiven und Herausforderungen in der Automobilwirtschaft einzubeziehen.

Die Arbeiten zur Fallstudie wurden im Großteil vor der Corona-Krise durchgeführt, es erfolgte keine Anpassung oder Neuauflage der Analysen und Ergebnisse. Die Einschätzung der Autorinnen und Autoren wie auch die Diskussion im Webinar zeigen, dass sich die Handlungsempfehlungen für einen erfolgreichen Strukturwandel nicht ändern – die Thematik erhält aber eine neue Brisanz.

Für Unternehmen ist es noch schwieriger, die nötigen Investitionen zu tätigen, gleichzeitig können Priorisierungen von Technologien durch die beschränkte Investitionskraft auch progressive und klare Entscheidungen befördern. Auch die staatliche Seite hat jetzt die Möglichkeit, potenzielle Konjunkturhilfen mit einer deutlichen Botschaft zu senden: ein klares Bekenntnis zu nachhaltigem Individualverkehr mit Elektromobilität statt uneingeschränkter Hilfen für das Modell Verbrennungsmotor, das nicht zukunftsfähig ist.

Florian Hacker und Lukas Minnich sind Wissenschaftler im Bereich Ressourcen & Mobilität des Öko-Instituts an den Standorten Berlin und Darmstadt. Dr. Claus Doll und Anna Grimm arbeiten als Wissenschaftler im Geschäftsfeld Mobilität beim Fraunhofer-Institut für System- und Innovationsforschung ISI.

 

Fallstudie:

Working Paper "Nachhaltige Automobilwirtschaft – Strategien für eine erfolgreiche Transformation"

 

Vortragsfolien:

Dr. Claus Doll : Nachhaltige Automobilwirtschaft –Strategien für eine erfolgreiche Transformation

Dr. Florian Lehmer: Kommentar nachhaltige Automobilwirtschaft - Strategien für eine erfolgreiche Transformation

Prof. Dr. Gerhard Prätorius: Nachhaltige Automobilwirtschaft – Strategien für eine erfolgreiche Transformation: Thesen/Kommentar

 

Mehr Informationen:

Coronakrise: Konjunkturmaßnahmen im Nachhaltigkeitscheck

Kaufanreize für Pkw? Nur ökologisch anspruchsvoll!

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